Erbrechtsrevision per 1.1.2023 – besteht Handlungsbedarf?

Erbrechtsrevision per 1.1.2023  – besteht Handlungsbedarf?

Das schweizerische Erbrecht wurde revidiert. Die Änderungen traten am 1. Januar 2023 in Kraft.
In unserem Blogbeitrag vom 15. März 2022 haben wir die neuen Bestimmungen betreffend das Pflichtteilsrecht vorgestellt.
Nachfolgend stellen wir die Übergangsbestimmungen vor und geben Handlungsempfehlungen ab.

1. Welches Recht wird angewandt?

Es gilt das Todestags-Prinzip: Massgebend ist das Recht, das im Zeitpunkt des Todes des Erblassers/der Erblasserin gilt (vgl. Art. 15 und 16 SchlT ZGB).

Die Erbrechtsrevision trat per 1. Januar 2023 in Kraft.

Ist eine Person vor dem 1. Januar 2023 verstorben, so gilt das ‘alte’ Recht; stirbt sie nach Inkrafttreten der Revision, so gelangt das ‘neue’ Recht zur Anwendung.

Dies gilt unabhängig davon, ob die gesetzliche Erbfolge eintritt oder ob vor dem Inkrafttreten der Revision eine letztwillige Verfügung erstellt / ein Erbvertrag abgeschlossen wurde.

2. Bleiben vor dem Inkrafttreten der Erbrechtsrevision errichtete letztwillige Verfügungen / Erbverträge auch nachher gültig ?

Ja, vor dem 1. Januar 2023 errichtete letztwillige Verfügungen und Erbverträge bleiben gültig.

Allerdings wird darauf ab dem 1. Januar 2023 grundsätzlich das revidierte Erbrecht angewandt.

Beispiel 1:
Frau X ist verwitwet und Mutter von Y und Z. Frau X hat eine letztwillige Verfügung errichtet. Darin hat sie verfügt: ‘Meine Nachkommen Y und Z setze ich auf den Pflichtteil. Die verfügbare Quote soll vollumfänglich an Z gehen’. Der Nachlass von Frau X beträgt CHF 1.0 Mio.

Starb Frau X vor dem 1. Januar 2023, dann erhält Y bei der Anwendung der ‘alten’ Pflichtteilsregelung 3/8 ihres Nachlasses – also CHF 375.000 – und Z 5/8 bzw. CHF 625.000.
Stirbt Frau X nach dem 31. Dezember 2022, erhält Y bei Anwendung des revidierten Erbrechts nur noch 1/4 – also CHF 250.000 – und Z 3/4 bzw. CHF 750.000.
Fazit: Je nach Todeszeitpunkt von Frau X beträgt die Differenz der Erbteile in diesem Beispiel CHF 125.000.

3. Besteht Handlungsbedarf?

Das Inkrafttreten der neuen Erbrechtsbestimmungen stellt einen guten Zeitpunkt dar, um angesichts der derzeitigen Lebensumstände und der Möglichkeiten, die die revidierten Regelungen eröffnen, eine Neuregelung des Nachlasses zu prüfen.

Wir empfehlen ganz grundsätzlich bereits errichtete letztwillige Verfügungen / Erbverträgen dahingehend zu prüfen, ob aufgrund der neuen Regelungen Erklärungs- und/oder Anpassungsbedarf besteht.

3.1. Bereits errichtete letztwillige Verfügungen / Erbverträge

3.1.1.
Bereits errichtete letztwillige Verfügungen / Erbverträge sind einerseits dahingehend zu prüfen, ob diese auch bei der Anwendung des revidierten Erbrechts noch so gewollt sind.

Insbesondere durch die Verringerung des Pflichtteils der Nachkommen, Aufhebung des Pflichtteils der Eltern und der damit einhergehenden Vergrösserung der verfügbaren Quote kann es zu erheblichen Verschiebungen der Erbanteile kommen.

Im Beispiel 1 erhält Y bei der Anwendung des revidierten Erbrechts einen erheblich geringeren und Z einen erheblich grösseren Anteil am Nachlass der Mutter. Ist diese Änderung gewünscht? Oder soll auch unter dem revidierten Erbrecht die Regelung nach dem ‘alten’ Pflichtteilsrecht angewandt werden? Es besteht Klärungsbedarf.

3.1.2.
Anderseits sind unseres Erachtens bereits errichtete letztwillige Verfügungen / Erbverträge dahingehend zu prüfen, ob sie auch bei der Anwendung des revidierten Erbrechts unmissverständlich abgefasst sind.

Durch eine Klarstellung zu Lebzeiten lassen sich Streitigkeiten unter den Erben bei der Verteilung des Nachlasses verhindern.

Beispiel 2:
Frau X ist verwitwet und Mutter von Y und Z. Frau X hat vor der Erbrechtsrevision eine letztwillige Verfügung errichtet. Darin hat sie verfügt: ‘Y erhält den Pflichtteil von 3/8. Mein restlicher Nachlass soll an Z gehen.’
Starb Frau X vor dem 1. Januar 2023 entspricht ihre Regelung dem geltenden Recht und ist klar: Der Pflichtteil von Y beträgt 3/8.
Stirbt Frau X nach dem 31. Dezember 2022, wird ihre Regelung unklar: Der Pflichtteil ihres Kindes Y beträgt dann neben dem anderen Nachkommen Z nur noch 1/4.
Was war der Wille der Erblasserin? Wollte Frau X ihrem Kind Y nur den Pflichtteil, der neu 1/4 beträgt, zukommen lassen? Oder sollte Y unabhängig von der gesetzlichen Pflichtteilsregelung die Erbquote von 3/8 erhalten, worauf der Wortlaut hindeutet?
Nach dem Tod von Frau X kann über ihren vermeintlichen Willen ausgiebig gestritten werden. Um dies zu verhindern, ist eine Klarstellung der Regelung zu Lebzeiten durch Frau X angezeigt.

3.1.3.
Schliesslich ist – aufgrund der neuen Möglichkeiten und der aktuellen Lebensumstände – zu prüfen, ob ganz grundsätzlich eine Neu-/Andersregelung einer letztwilligen Verfügung / Erbvertrages angezeigt ist.

Beispiel 3:
Frau X ist verwitwet und Mutter von Y und Z. Frau X hat vor der Erbrechtsrevision eine letztwillige Verfügung errichtet. Darin hat sie verfügt: ‘Y erhält 3/8 und Z 5/8 meines Nachlasses.’
Bei dieser Formulierung sind die Quoten der Erben festgelegt. Weder bei der Anwendung des ‘alten’ noch bei der Anwendung des ‘neuen’ Rechts wird der Pflichtteil von Y und/oder Z verletzt. Die Regelung ist klar: Die Nachkommen erhalten die verfügte Quote.
Es stellt sich die Frage, ob diese Regelung weiter so gelten soll. Aufgrund der neuen Pflichtteilsregelungen wäre eine Reduktion der Erbquote von Y auf 1/4 möglich. Dies müsste aber neu geregelt werden. Gleichzeitig könnte Frau X prüfen, ob sie ihrem Lebenspartner, den sie nach der Errichtung der letztwilligen Verfügung kennenlernte, bei ihrem Ableben neu ebenfalls begünstigen möchte.

4. Wie sollen bestehende letztwillige Verfügungen / Erbverträge angepasst werden?

Soweit es um Präzisierungen der Auslegung von letztwilligen Verfügungen / Erbverträgen geht, können diese vielfach mit einem Nachtrag zur bestehenden letztwilligen Verfügung / zum bestehenden Erbvertrag erfolgen, der den gesetzlichen Formvorschriften entspricht.

Sollen die bestehenden letztwilligen Verfügungen / Erbverträge in grundsätzlicher Hinsicht angepasst werden, da sie als nicht mehr sachgerecht erachtet werden, ist eine Neuregelung mittels Neuerrichtung der letztwilligen Verfügung / des Erbvertrages angezeigt.

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